Junemoon

Er konnte sich nicht erinnern, wann er das erste Mal ahnte, dass er anders war als sie, aber es war sehr lange her. Irgendwie hatte es in Zusammenhang mit seiner Kleinwüchsigkeit gestanden und all seine Sehnsucht galt dem Wachsen; immer hatten sie ihm versichert, dass er noch größer werde; er liebte sie, er glaubte ihnen.

Wie hätten sie es auch wissen sollen? Und war es denn wichtig?

Sie lebten friedlich, besonnen, lethargisch, glücklich. Und er mit ihnen.

Nur wenn die eine Zeit sich näherte, wurde er unruhig, mißmutig, aufgeregt.

Würde er sie endlich aus eigener Kraft erblicken?

Nach Phasen der endlosen Helle, wenn sich die drei Sonnen unendliche Male erneuert hatten, kam regelmäßig die eine kurze schmerzvolle Zeit der dunklen Phase.

Und mit ihr kam sie, die sie Junemoon nannten.

Wenn es so weit war, stieg er auf eine ihrer roten Zungen, breitete die Arme aus und ließ sich emporheben. Empor, vorbei an den alles umschließenden grünen Gewalten, hoch, höher, über sie hinaus, bis das graublaue Dunkel zu ihm drang, ihn umschlang. Doch die warme Zunge unter ihm, ihn mit der Spitze vorsichtig stützend, trug ihn darüber hinaus, der weißen Scheibe entgegen. Ihr Anblick ließ sein Herz erzittern und eine unendliche Sehnsucht, die er sich nicht erklären konnte, bemächtigte sich seiner. Die unbeschreibliche Schönheit des Junimondes wandelte das Gefühl der Sehnsucht in Glückseligkeit. Wenn das Zerstreuen begann, erfüllte ihn anwachsende Traurigkeit in dem Maße wie die weiße Scheibe verschwand. Dann löste sich auch die graublaue Dunkelheit und die neue Phase der Helligkeit begann. Sie holten ihn wieder herunter, und er schlief einige Stunden, zu Tode erschöpft. Wenn er sich wieder erholt hatte, schwor er jedesmal aufs Neue, die weiße Scheibe beim nächsten Mal aus eigener Kraft und auf eigenen Beinen zu erreichen. Dass er sie einmal würde berühren können, war sein größter Wunsch.

Als sie schließlich gewahrten, dass er seine endgültige Größe nach erst 17 Jahren bereits erreicht hatte, waren sie nur erstaunt, ihm jedoch brach es fast das Herz. Nun stellte er sich auch der anderen Wahrheit: seine Gließmaßen würden sich niemals verändern, ebenso wenig wie seine dunkle Haut.
Er war nicht wie sie.
So fragte er sie zum ersten Male nach seiner Herkunft.
Ihre großen dunklen Augen umfingen ihn mit Zärtlichkeit und Liebe. Er schmiegte sich an ihre weiches gelbbraun-geflecktes Fell. Er wollte sie nicht verletzen.
Sie blickten einander an. Und dann brachten sie ihn an den Ort.

Mehrere Phasen der wechselnden Sonnen waren vergangen, als sie ihn erreichten. Niemals zuvor hatte er diesen Ort gesehen.

Sein Boden war übersät mit unterschiedlich großen, fremdartig aussehenden Objekten, in denen sich das Licht der Sonnen glitzernd spiegelte; die meisten von ihnen zerstört, zerbrochen von der Wucht des Aufpralls, der sie einst hierher geführt hatte.

Sie setzten ihn ab und er wanderte umher, bestaunte die seltsamen Teile, die zusammengefügt zu unvorstellbar riesigen Kugeln sich geformt hätten. Er berührte sie, fühlte ihre Glätte, wischte den Staub von ihnen.

Und dann entdeckte er die Zeichen. Viele Zeichen.
Jede Kugel hatte einst die Zeichen getragen. Er erinnerte sich.
Rannte, stolperte, von einer zur anderen, fand die Stelle, wo sie die Zeichen trugen, rieb sie frei, verstand sie, las sie:

U.S.S. JUNEMOON 505
U.S.S. JUNEMOON 33A
U.S.S. JUNEMOON 0040
U.S.S. JUNEMOON B8

Und weitere, mehrere, alle waren sie hier. Wie alt war er damals gewesen? Vier? Fünf?
Auf dem Weg zur neuen Heimat der Kolonie.

Dem Planeten der Grazilen Giganten.

„Junemoon?“ fragte seine Mutter. Sie bog ihren langen Hals zu ihm herunter.
Er antwortete nicht.
Erkannte etwas, das im Schatten eines metallenen Splitters halb vergraben im Sand lag.
Grub es aus. Klopfte den Sand heraus. Fand ein zweites Teil.
Die vielen Jahre hatten sie zerknittert, verschmutzt, ausgeblichen. Es war ihm gleich.
Er schlüpfte hinein in die Hose, zog das T-Shirt über seinen Kopf. Bedeckte seine Nacktheit.

„Junemoon?“ fragte sein Vater. Er bog seinen langen Hals zu ihm herunter.
Er antwortete nicht, stieg stumm auf die dargebotene Zunge und ließ sich nach Hause tragen.

Es war dunkel geworden, das altvertraute Raunen lag in der Luft.
Sie blieben stehen.
Weit oben lichtete sich das Dunkel zu Graublau.

„Willst du?“ fragte sein Vater.
„Wir lieben dich“ sagte seine Mutter.

Und er hob ihn empor, vorbei an den alles umschließenden grünen Gewalten, hoch, höher, über sie hinaus, bis das graublaue Dunkel zu ihm drang, ihn umschlang. Die warme Zunge unter ihm, ihn mit der Spitze vorsichtig stützend, trug ihn darüber hinaus, der weißen Scheibe entgegen.

Er starrte sie an. Die glänzende weiße Scheibe, für immer unerreichbar.
Kälte umfing ihn hier, zum ersten Mal.
Er senkte den Kopf.

„Eines Tages werden sie wiederkommen“, sagte sein Vater.

Da trat er über den Rand der roten Zunge hinaus.

© Susann Ulshöfer

Junimond

© Xabu Iborian 1985 (Pastell auf Schoellerhammer / 88 x 120)
Bild mit freundlicher Genehmigung des Malers in die Geschichte eingebunden =))
(Fantasygeschichte inspiriert durch das abgebildete Gemälde; veröffentlicht am 18.06.1998 bei Eiersalat und Olivenöl. Seit 22.06.2000 – fast auf den Tag genau 2 Jahre später – bei CyberZauber veröffentlicht; inspiriert durch den Rio-Reiser-Cover-Song „Junimond“ der Gruppe Echt^^)

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