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Schnürlregen



Immer, wenn sie in diese Stadt zurückkehrte... .....regnete es. Die Ansässigen nannten es "Schnürlregen", weil die Regentropfen wie Perlen an einer Schnur herunterrieseln. Wahrschweinlich gab es hier viele Juweliere. Wo die Leute immer ihre Vergleiche hernehmen. Schnüre. Es schnürte ihr den Magen zu, wenn sie daran dachte, was sie in dieser Stadt alles erlebt hatte. Erlitten hatte. Die tiefste Depression und die höchste Hochstimmung. Sie versperrte ihr Auto und spannte den Knirps auf. Fluchte, als sie sich dabei wie üblich den Zeigefinger einklemmte. Autsch, umgeknöchelt. Verflixt auch, warum musste sie ausgerechnet heute diese Pumps anziehen, damit hatte sie noch nie richtig gehen können. Und jetzt noch bei diesem Sauwetter. Ach ja, weil zu diesem Kleid nur diese Pumps passen, und weil sie sonst immer Hosen trägt und diese Latscher mit breitem Absatz. Und weil sie, wenn sie zum Frauenarzt ging, immer dieses Kleid anhatte, denn mit hochgeschobenem Rock ließ es sich vornehmer auf dem Gynäkologenstuhl Platz nehmen. Wenn man Hosen anhatte, war man unten herum völlig nackt. Das war man sowieso, aber der nach oben geschobene Rock verlieh der ganzen Aktion irgendwie mehr Würde. Warum der Frauenarzt, den sie mochte, dem sie vertraute, ausgerechnet in diese Stadt übersiedelt war? Der Liebe wegen, hieß es. Also fuhr sie jetzt der Liebe wegen, einer fremden Liebe wegen, 90 km zu ihrem Frauenarzt. Stöckelte hier eine halbe Stunde durch den Schnürlregen, weil Parkplätze nie dort sind, wo man sie braucht. Beinahe wäre sie selber einmal der Liebe wegen in dieser Stadt geblieben. Wo es die meiste Zeit regnete. Sie zog weg, nein, rannte davon, und ihr Gynäkologe übersiedelte hierher. Klang wie ein Scherz. Verdammt, sie hätte sich Handschuhe mitnehmen sollen, die Hand, die den Schirmgriff hielt, war eisig. Ja, sie musste ihm genau schildern, wie das war mit den Blutungen, die seit drei Monaten völlig verrückt spielten. Mal so, mal anders, braun, rot, schleimig, von der übelsten Sorte, in wöchentlichen Abständen, manchmal länger. Mit dem Wechsel konnte das wohl kaum zu tun haben, sie war erst 38. Ein Auto fuhr direkt neben ihr durch eine Pfütze, ärgerlich betrachtete sie die Dreckspritzer auf ihrer Strumpfhose. Dann dieser Schmerz im Unterleib, der sie immer dann überfiel, wenn sie ihn am Wenigsten erwartete. Stechend, scharf, kurz. Der Schmerz als Alarmsignal, sagen die Ärzte. Sie WAR ja alarmiert. Jede Krankheit ist psychosomatisch, sagen die Psychosomatiker. Ja, aber was half ihr das? Was hatte sie falsch gemacht? Warum schickte ihr ihre Seele jetzt diesen Schmerz und die Blutungen? Damit sie einmal über sich selbst nachdachte? Sie hatte diese Menschen immer verabscheut, die sich unentwegt selber beobachten, in sich hineinhorchen, hineinfühlen - und nun war sie selber so einer geworden. Zweimal täglich tastete sie ihre Brüste ab, ja genau, sie wollte ihn um eine Mammographie-Zuweisung bitten, sicher ist sicher. Na toll, schon wieder umgeknackst. Vielleicht schaffte sie es ja bis zur Praxis ohne Seitenbandriss. Sie hatte nasse Füße und kalt war ihr auch, bis auf die Knochen. Wahrscheinlich wird er eine Curettage vorschlagen, da wird die Schleimhaut ausgeschabt, unter dem Mikroskop untersucht. Sie hatte sich bei Freundinnen erkundigt, eine arbeitet als Operationsschwester in einem größeren Krankenhaus. Eine Curettage ging in Ordnung, sie hatte sich bereits darauf eingestellt, hatte sich vorsichtshalber für drei Wochen Urlaub eingetragen. Falls etwas schiefging. Sie wechselte den Schirm in die andere Hand, steckte die blaugefrorene in die Manteltasche. Wartete, dass die Ampel auf GRÜN umsprang. Springen. Immer auf dem Sprung sein. Das war sie. Sie wollte nichts versäumen. Sich auf nichts näher einlassen. Man machte eine Sache und versäumte Tausende andere, und nichts ließ sich nachholen. Die paar intensiveren Männerbeziehungen, die sie hatte, scheiterten daran. Sie wäre zu ruhelos, sagte der eine. Immer schielte sie aufs berühmte Hintertürchen, der andere. Ob es wohl offen stünde, für den Fall. Sie suchte immer nach etwas, das sie nicht hatte, und fand etwas, das sie nicht gesucht hatte. Kein Kind. Mit einem Kind kannst du alles andere vergessen, hatte ihre Mutter immer gesagt. Wieso, ausgerechnet, vertraute sie hierbei darauf, was ihre Mutter sagte. Möglicherweise hatte sie Krebs. Das würde bedeuten, eine größere Operation und anschließend Chemotherapie, oder eine Bestrahlung. Sie überquerte die Straße. Früher hatte sie immer behauptet, bei Diskussionen im Freundeskreis: ICH lasse sicher nie an mir herumschnipseln, lasse mich nicht verstümmeln. Eine Chemo käme für mich nie in Frage. Ich spiele nicht Versuchskaninchen. Dieser Leidensweg, und man gewinnt nur ein paar Jahre, wenn überhaupt. Gewonnenes Leben. Wie sich das anhörte. Gewinnen und verlieren. Das Leben als Glücksspiel. Der Weg führte leicht bergauf und sie kam ein wenig außer Atem. Mittlerweile wusste sie, dass Überleben einen Versuch wert war; dass sie es für sich selber tun musste. Sie hing am Leben, nie war ihr bewusst, dass sie so am Leben hing. Und jezt hing ihr Leben von dieser Untersuchung ab. Sie hauchte mehrmals auf ihre Schirm-Hand. Ein Glücksfall, wenn sie davonkäme. In einem Wienerlied hieß es: s'Glück is wia a Vogerl. Ja, sie wäre der glücklichste Mensch, wenn sich ihre Befürchtungen nicht bewahrheiten würden. Das Glück ließ sich nicht festhalten, aber sie würde den Moment auskosten, solange es ging. Würde, wäre, wenn. In einer Stunde wusste sie mehr. Täuschte sie sich - oder hatte der Regen wirklich nachgelassen. Das Grau kam ihr nicht mehr so undurchdringlich vor. Hier war's, der Klingelknopf zur Praxis. Ja, sie sah bereits einen Silberstreif am Horizont.

copyright Christine Jurasek