Weihnachten im Hinterhof 
Boris am 05.12.97 

Da waren keine Hirten auf dem Felde - da waren nur Dreck und Muell und verschimmelte Wurstreste. Vor Wochen hatte jemand in die Ecke gekotzt, da wohnten die Maden und die Ratten. Alte Kisten lagen in der Ecke, Bruchstuecke eines Geruestes, Essensreste und Zigarettenstummel. Es stank nach Abfaellen, nach ranzigem Schmieroel und Rattenscheisse. In diese Ecke im Hinterhof verkrochen sich nicht einmal die Penner.

Der Wachmann schlurfte seine Runde, leuchtete missmutig in die Ecken und verdraengte den Gedanken, dass heute die Heilige Nacht war - ungefaehr sechs Uhr frueh. Da fand er es - ein kleines Koerbchen aus Stroh mit einem Saeugling darin. Das Kind war nett zurechtgemacht, die dreckige Windel ordentlich festgesteckt, sein Kopf lag auf einem weissen Kissen.

Das Kind hatte noch geweint, man sah es jetzt noch, obwohl die Haendchen blau und das Gesicht weiss geworden waren. Die Augen waren geschlossen, die letzten Traenchen glaentzen im Schein der Taschenlampe. Der Wachmann rief den Notarzt.

"Maennliches Geschlecht, 50 cm gross, cirka 4 kilo schwer," konstatierte der Arzt, "heute geboren, heute gestorben." Er begann, das Koerbchen zu untersuchen - vielleicht fand man ja einen Hinweis. Am Fuesschen des Kindes fanden sie seinen Zettel.

Der Notarzt las. Seine Oberlippe zitterte, die Hand, die den Zettel hielt, sank nach unten, als waere ihr der Zettel zu schwer geworden. Der Wachman warf einen Blick darauf - dann drehte er sich um und weinte. Der Notarzt schaute den huebschen Leichnam an, legte ihn vorsichtig hin und uebergab sich.

Auf dem Zettel stand in kindischer, krakeliger Schrift: "gott ist tot."