Das Marzipanmädchen 
Thomas Rudel am 06.12.97 

Pünktlich zu den Weihnachtsferien schneite es. Bereits in der Nacht fielen die ersten Flocken, und am Morgen des letzen Schultages reichte der Schnee den kleineren Schülern schon bis an die Knie. Auf dem Schulhof übertrafen sich die Erzählungen von wagemutigen Ausweichmanövern und gefährlichen Stürzen, und wenn man länger zuhörte, bekam man den Eindruck, daß es eine wundersame Fügung sein mußte, daß die Schülerzahl trotz Wintereinbruch nicht nennenswert gesunken war. Klassenarbeiten und Hausaufgaben waren kein Thema mehr, selbst im Unterricht nicht. Alle sprachen nur noch vom Wetter und von den bevorstehenden Ferien.

Und endlich war auch die letzte Stunde vorbei. 

"Frohe Weihnachten," verabschiedete sich Martin, und schon war er verschwunden. "Schöne Ferien allerseits," wünschte Lena, und dann war auch sie zur Tür hinaus. "Schaut mal, es schneit wieder," rief Matthias, und weg war er.

Jeder hatte es plötzlich eilig, die Schule zu verlassen. Jeder - bis auf Marco. Er ließ sich Zeit beim Einpacken der Bücher, er kramte noch in der Tasche, als beinahe alle schon verschwunden waren, und auch auf dem Weg über den Schulhof, zum Fahrradständer, ließ er sich viel Zeit. Er dachte an Lissy. Lissy aus der Parallelklasse, in die er schon seit Wochen verliebt war. Eigentlich schon seit den Sommerferien, aber so richtig schlimm war es erst im Herbst geworden. Sie sah gut aus, mit ihren langen, blonden Haaren, ihrer kleinen, zierlichen Nase und den immer leicht geröteten Wangen. Beinahe die halbe Schule war in sie verknallt. Sie hatte etwas an sich, was jeden 13-jährigen zum Wahnsinn treiben konnte. Wenn man ganz dicht neben ihr stand, roch sie ein wenig nach Marzipan, hatte Marco herausgefunden. Fast wie Weihnachten. Und er fragte sich manchmal, ob er der einzige war, der davon wußte. Oft hatte er sie schon heimlich aus den Augenwinkeln beobachtet, sie lachte sehr oft, und in letzter Zeit lächelte sie ihm sogar manchmal zu. Bildete er sich zumindest ein. Unmöglich war es jedenfalls nicht, denn ihm war auch aufgefallen, daß sie sich ungewöhnlich oft an den Fahrradständern trafen. Schon seit längerem. Ob das Zufall war? Manchmal stand ihr Rad sogar direkt neben seinem, wer weiß warum! Aber ansprechen? Deswegen doch nicht, vielleicht hatte sie es ja nicht einmal bemerkt...

Auch in der letzten Woche hatten sie sich dort mehrmals getroffen, und einmal standen sie sogar ganz alleine beisammen. Sie hantierte an ihrem Tornister, und als er zu seinem Rad kam, blickte sie auf und lächelte. Da hatte er sie eigentlich ansprechen wollen, und es schien auch so, als hätte sie darauf gewartet, aber dann hatte ihn doch der Mut verlassen und sie war weggefahren. Schön blöd!

Am nächsten Tag hatte Marco heimlich ein kleines Blatt Papier auf ihrem Gepäckträger befestigt, morgens schon, denn sie war immer etwas früher da als er. "Ich mag Dich," stand darauf, aber damit er kein Risiko einging, hatte er seinen Namen mal lieber vergessen. Wenn sie ihn auch mochte, würde sie schon wissen, wem sie dieses Geständnis zu verdanken hatte.

Aber - offensichtlich mochte sie ihn nicht: Die letzte Woche war vergangen, ohne daß sie ihm zurückgeschrieben hätte. Ihm tat das Herz weh, als er ihr danach zum ersten Mal begegnet war, er lief wie auf Eiern, als er an ihr vorbei ging, aber sie schien es gar nicht zu bemerken. Und in dieser Woche hatte er sie schon zweimal bei den Rädern getroffen, und immer hatte sie gelächelt, aber ansonsten - nichts. Wer weiß, wen sie wegen des Zettels in Verdacht hatte. Ihn jedenfalls nicht. Vielleicht bekam sie solche Werbesendungen ja auch öfter. Mißmutig stapfte er durch den Schnee und erreichte sein Rad. Nun würde er sie zwei lange Wochen nicht sehen. Hätte er sie doch nur angesprochen!

Plötzlich spürte er, wie ihn jemand am Ärmel zupfte. Gleichzeitig bemerkte er einen unverwechselbaren Marzipangeruch. Es war Lissy. Sie mußte auf ihn gewartet haben, denn wegen des Schnees war sie am Morgen mit dem Bus gekommen.

"Hallo Marco," sagte sie, und eine Schneeflocke landete geradewegs auf ihrer Nase. Sie hielt ein kleines, rotes Päckchen in der Hand. "Frohe Weihnachten," sagte sie, lächelte vergnügt und stellte es auf seinen Gepäckträger.

"D-d-danke," sagte er, und hoffte dabei, daß es einigermaßen gelassen klang. Und dann blickte er doch verlegen auf seine Schuhe. "Hab Dich auch gern," sagte sie noch, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. "Ruf doch einfach mal an, wenn Du Zeit hast!" Als ihm bewußt wurde, was er da gerade gehört hatte, hätte er sie am liebsten umarmt. Aber da war sie schon verschwunden.