Zeit 
„Es tut mir leid!“
„Scheiß auf dein ‚Es tut mir leid‘. Ich kann es nicht mehr hören, verstehst du? Ich kann einfach nicht mehr!“
„Ich kann nicht mehr tun als mich zu entschuldigen.“
„Du kannst den Heiligen Abend mit mir verbringen, wie du es mir versprochen hast. Verdammt, halt doch einmal ein Versprechen, ich habe mich so sehr auf heute abend gefreut. Nur ein Mal im ganzen Jahr versammelt sich meine Familie bei meinen Eltern. Alle werden kommen, nur ich muss wieder alleine antanzen.“
„Du ahnst nicht, wie gerne ich heute mit dir und deiner Familie zusammen feiern würde. Aber es geht um meine Karriere, unsere Zukunft. Ich könnte den Auftrag fürs neue Landratsamt bekommen, das ist die Chance, das wäre mein Durchbruch. Und deswegen muss ich mich dringendst bei den Feierlichkeiten des Bürgermeisters blicken lassen, sonst kann ich es vergessen. Du könntest ja mitgehen, aber deine Familie ist dir ja wichtiger. Okay, aber dann beschwere dich nicht bei mir. Und außerdem: etwa um zehn komme ich nach.“
„Deine Karriere. Deine Kungelfreunde. Für mich hast du keine Zeit, für mich hast du nie Zeit. Komm‘, hau ab! Wenn du mich lieben würdest, würdest du mir das nicht antun.“
Sie schlug die Wohnzimmertüre so fest zu, dass die Wände wackelten und die Weingläser in der Vitrine klirrten. So wütend hatte er sie selten gesehen.
Schlechten Gewissens nahm er seinen Mantel, schnürte die plankgeputzten Schuhe und ging. Was sein musste, musste sein. Es war ja auch zu ihrem Nutzen, warum der Undank?
Währenddessen lag sie heulend auf ihrem Bett und vergrub ihr Gesicht im Kopfkissen. Sie fragte sich, warum er sie denn immer verletzen müsse. Sie hasste ihn deswegen, weil sie ihn liebte. Oft hatte sie schon daran gedacht ihn zu verlassen. Aber er hatte sie immer wieder beschwichtigt. Er konnte wunderbar sein, wenn er sich Zeit für seine Frau nahm, dann war es der Mann, in den sie sich verliebt hatte.
Später, sie hatte sich inzwischen ein wenig erholt, schleppte sie sich zum Telefon. Sie wollte ihren Eltern absagen, sie hätte Bauchweh, hatte sie sich ausgedacht. Irgendwie stimmte es sogar, der Weinkrampf hatte den Bauch tatsächlich etwas mitgenommen. Doch als sich ihr Vater meldete, mit seiner weichen Stimme jubilierte, dass er sich unendlich freue, dass sich die Familie heute versammle, brachte sie es nicht übers Herz und flüchtete sich in eine Nebensächlichkeit.
Ihre Mutter hatte sich wieder alle Mühe gegeben das gesamte Haus in hochweihnachtliche Stimmung zu versetzen. Überall waren Kränze und Zweige, an den Fenstern klebten Weihnachtsbilder, unter dem prächtigen Weihnachtsbaum stand die von ihrem Vater selbstangefertigte Krippe, die auch schon zu ihrer Kinderzeit an der selben Stelle gestanden hatte. Damals war ihre Welt noch heil gewesen.
Überschwenglich wurde sie von ihrer Verwandtschaft begrüßt, hier fühlte sie sich heimisch, doch jede Frage nach ihrem Mann war ein schmerzhafter Stich, jede Frage erneut ein Kinnhaken.
Ihre Mutter hatte, wie jedes Jahr, einen vorzüglichen Gänsebraten zubereitet, dazu gab es guten italienischen Wein, für die Kinder frischer, selbstgepresster Orangensaft. Nachdem der Tisch abgeräumt war verschwand ihre Mutter geheimnisumwittert im Wohnzimmer und als von drinnen plötzlich „Oh Tannenbaum“ erklang war es das Zeichen, dass die Familie eintreten durfte. Allen voran die Kinder, die vor Neugierde sogar, was selten vorkam, freiwillig abgeräumt und Geschirr gespült hatten, in Rekordzeit.
Nun wurde gemeinsam gesungen, alle, die Instrumente spielen konnten, spielten diese und ihr Vater las die Weihnachtsgeschichte vor. Eine halbe Stunde dauerte es, bis endlich derjenige kam, auf den die Kinder sehnsüchtig gewartet hatten. Einer alten Familientradition folgend lagen die Geschenke nämlich nicht unterm Weihnachtsbaum, sie wurden vom Weihnachtsmann höchstpersönlich übergeben.
Einen großen Rutensack hatte der Weihnachtsmann über seine Schulter geworfen, prall gefüllt, und offenbar schwer, denn der Mann mit dem langen weißen Bart keuchte unter der Last.
Mit leuchtenden Augen horchten die Kinder dem Weihnachtsmann zu: es war ein gnädiger Weihnachtsmann, der mehr lobte als tadelte, der eigentlich nur lobte, weil er ja nicht der Nikolaus sei, dessen Aufgabe sei es zu tadeln, sagte er.
Einer nach dem anderen durfte sich seine Geschenke abholen, zuerst die Kinder, dann die Erwachsenen. Die Kinder rissen unter leise mahnenden Worten ihrer Eltern die ersten Geschenke auf.
Auch sie hatte reichlich Geschenke bekommen, acht Päckchen hatte sie in der Hand, ein Glück eine Großfamilie zu haben.
Der Sack des Weihnachtsmannes schien leer zu sein, ihre Mutter wollte ihn schon verabschieden, da erhob er noch mal seine tiefe Stimme:
„Ich hätte da noch ein Geschenk für das gnädige Fräulein.“ Verdutzt ob der Anrede sah sie ihn an. Eine uneingepackte Wanduhr hielt er ihr entgegen. Stille erfüllte den Raum, selbst die Kinder hielten im Auspacken inne.
„In Zukunft“, sagte er, „will ich dir viel mehr Zeit schenken. Zum Teufel mit dem Landratsamt: du bist mein Leben!“
Mit Tränen in den Augen drückte sie ihn an sich und flüsterte ihm in den Rauschebart: „Das ist das schönste Weihnachtsgeschenk, das du mir machen konntest.“
Später fragte sie ihn, als er sein Kostüm längst ausgezogen hatte und alle Erwachsenen in gemütlicher Runde am Tisch beieinander saßen, während die Kinder sich mit ihren Geschenken beschäftigten, was er eigentlich mit dem „richtigen“ Weihnachtsmann gemacht habe.
Der, antwortete er, sei froh gewesen, dass er ihm seinen Auftrag abgenommen habe. So habe er früher zu seiner Familie können.