Ein perfektes Weihnachten

Was für ein Weihnachten! Es war wirklich einmalig. Es gab Tränen, Vorfreude, Geschimpfe, Geschenke und ein Krippenspiel. Es gab noch viel mehr, aber ich beginne mal ganz von vorn. Es fing nämlich wie ein ganz normales Weihnachten an, nur dass Mama dieses Jahr ihre Eltern und ihren Bruder mit Familie eingeladen hatte. Sie wollte ein familiäres, ganz perfektes Weihnachten. Am Anfang verlief auch alles ganz gut. Wir gingen zusammen in die Kirche und meine vierjährige Schwester spielte im Krippenspiel mit. Der kleine Peter, das Baby meiner Tante Lena, verschlief den ganzen Gottesdienst.

Zuhause gab es Kartoffelsalat mit Würstchen. Mama hatte das noch nie vorher gemacht, aber dieses Weihnachten bestanden ihre Eltern darauf. Bei Oma und Opa gibt es an Heiligabend immer Kartoffelsalat mit Würstchen und Oma wollte nicht kommen, wenn es das nicht gab. Als wir alle am Tisch saßen, fragte Tante Lena: "Was gibt es denn jetzt Leckeres?"
"Kartoffelsalat mit Würstchen!", antwortete Mama stolz. Sie war nicht gerade eine Eins im Kochen und war mächtig stolz auf ihre Leistung.
"Was!", schrie Tante Lena. "Aber Tanja, ich bin doch Vegetarierin!"
Tanja heißt meine Mutter und diese wurde plötzlich ganz bleich.
"Lena, das hab` ich ganz vergessen", stammelte sie, "aber du kannst ja nur den Salat ohne die Würstchen essen. Das tut mir echt Leid."
Mama sah ziemlich verstört aus. Sie hatte überhaupt nicht mehr daran gedacht. Tante Lena war fast ein bisschen wütend. Doch weil Heiligabend war, nahmen sich alle etwas zusammen. Ich war froh, dass es nicht zu einem Streit kam, denn ich wollte auch ein schönes Weihnachten haben. Doch da kam schon das nächste Problem.
"Ich esse nichts", sagte Louise, meine 18-jährige Cousine.
Ich glaube, sie war nur mit zu uns gekommen, weil sie sonst keine Geschenke von ihren Eltern bekommen hätte.
"Warum denn nicht?", fragte Mama sie erstaunt.
"Sie will nichts essen, weil sie in einer Zeitschrift gelesen hat, dass 50 % der Deutschen nach den Weihnachtsfeiertagen 3 kg mehr wiegen", antwortete mein Onkel und verdrehte die Augen. Er gehörte mit großer Wahrscheinlichkeit diesen 50 % der Deutschen an und hatte diese 3 kg jedes Jahr nicht wieder verloren.
Jetzt meldete sich zum ersten Mal mein Opa zu Wort: "Aber du bist doch schon dünner als ein Streichholz, Louise!"
Mama ahnte wohl, dass ein Gewitter in der Luft lag und sagte schnell: "Lasst doch Louise in Ruhe. Wenn sie nichts essen will, lässt sie es eben." Ich atmete erleichtert aus, doch das sollte nicht der letzte Zwischenfall bleiben.

Der Rest des Essen verlief einigermaßen gut, obwohl Papa ständig an Sara herummeckerte, weil sie nicht mit Fingern essen sollte. Aber das ist bei kleinen Kindern halt so. Nach dem Essen fragte meine Oma Sara: "Jetzt gibt es wohl bald Bescherung, oder nicht?"
"Bescherung!", rief Sara und rannte zum Wohnzimmer.
"Aber Sara, du darfst den Baum doch noch nicht sehen!" rief die Oma ihr hinterher.
Ich ahnte Schlimmes. Unsere Oma ist sehr auf das Einhalten von Traditionen bedacht. Früher als Mama noch ein Kind war, durfte sie den Tannenbaum nicht vor der Bescherung sehen. Bei uns ist das anders. Wir helfen unseren Eltern immer beim Schmücken des Baumes. Deshalb erwiderte Sara auch prompt: "Den hab` ich doch gestern schon gesehen. Da haben ich und Tobias und Mama und Papa den Baum geschmückt, stimmt`s Tobi?"
Ich nickte langsam. Musste sich Oma denn immer über alles aufregen? Konnte sie sich nicht mal an Heiligabend etwas zurückhalten? Nein, das konnte sie nicht, denn sie meinte sofort: "Tanja! Dürfen eure Kinder den Baum schon vor der Bescherung sehen? Hältst du denn gar nichts von den Traditionen die ich an euch weitergegeben habe?"
Doch Mama hatte Oma gar nicht richtig verstanden, weil im gleichen Moment der kleine Peter von Tante Lena anfing zu schreien und Papa Mama ins Ohr flüsterte: "Ich habī es gleich gesagt. Wir hätten nicht alle einladen sollen!"
Mit der Weihnachtsstimmung war es aus und ich wollte mich am liebsten in mein Zimmer unter die Bettdecke verkriechen. Dort wollte ich dieses mies gewordene Weihnachten einfach vergessen. Doch das kann man an Weihnachten nun mal nicht machen.

Das Baby hörte nicht auf zu schreien und plötzlich kam mir eine Idee, wie ich das ganze Chaos für eine Weile verlassen könnte.
"Ich gehe mal mit dem Hund raus", sagte ich. "Der muss, glaub ich , mal sein Geschäft verrichten."
Bevor irgendjemand etwas erwidern konnte, hatte ich mir den Hund und eine Jacke geschnappt und schleunigst das Haus verlassen. Ich ging in Richtung Park, der nur ein paar Meter entfernt lag. Ich war so wütend auf Mama, Oma, das Baby und auf das ganze Weihnachten, dass ich erst mal eine Schneeballschlacht mit einem Baum veranstaltete. Ein Baum kann bekannterweise keine Schneebälle werfen, doch plötzlich tat dieser Baum das doch. Jedenfalls dachte ich zuerst, es war der Baum, da sonst niemand im Park war. Doch dann kam auf einmal ein Mann hinter dem Baum hervor und der Park war sofort etwas heller als vorher. Der Mann trug einen Wintermantel und einen Hut. Er sah noch ziemlich jung aus und machte irgendwie einen eleganten Eindruck.
Bevor ich mich von meinem Schreck erholen konnte, fragte er mich: "Was machst du denn hier so allein an Heiligabend?"
Ich verspürte plötzlich den Drang, diesem Fremden alles zu erzählen. Von der Oma bis zum Baby Peter. Es kam mir so vor, als hätte ich diesen Mann schon ewig gekannt und könnte ihm deshalb alles Mögliche erzählen. Und das tat ich dann auch. Ich erzählte ihm alles von unserem "wunderschönen" Weihnachtsfest und er hörte zu.
Als ich fertig war, schwieg er noch eine Weile, dann sagte er: "Ich verstehe, was du meinst."
Und ich glaube, er hatte wirklich verstanden, was ich meinte und es nicht nur so daher gesagt.
"Weißt du Tobias", sagte er dann, "ich glaube, es gab noch nie ein perfektes Weihnachten und es wird auch nie eines geben. An Weihanchten soll man feiern, dass Jesus geboren wurde. Niemand hat gesagt, dass das Essen an diesem Tag perfekt sein muss oder dass die Großmutter an diesem Tag nur ihre Schokoladenseiten zeigen sollte. Natürlich will man, dass alles so schön ist wie in manchen Weihnachtsgeschichten, aber eine Familie kann doch nicht ihr ganzes Benehmen an einem einzigen Tag ändern!"
Was er gesagt hatte, wirkte auf einmal sehr einleuchtend. Weihnachten musste gar kein perfektes Fest mit Familienidylle sein. Ich drehte mich wieder zu dem Fremden um, um ihn zu fragen, wieso er eigentlich nicht irgendwo Weihnachten feierte und woher er meinen Namen kannte, doch da war niemand mehr. Er war einfach verschwunden. Ich guckte mich noch eine Weile nach ihm um, doch er war nirgends zu finden. Plötzlich fing es an zu schneien und ich dachte, dass ich jetzt schon ziemlich lange weggewesen sein musste. Ich rief schleunigst den Hund zurück und wir machten uns auf den Heimweg. Ich dachte immer noch über dieses Phänomen "das perfekte Weihnachten" nach und dann fiel mir ein, dass das erste Weihnachten auch alles andere als perfekt war. Zufriedener kam ich zu Hause an und freute mich sogar auf die Geschenke.

Ich rätsele immer noch darüber, wer der Fremde war, der mir geholfen hatte. Und ich denke, dass ich vielleicht einem Weihnachtengel begegnet bin.

copyright Svenja Meier, 16 Jahre (31.12.04)