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    >> Der Zeitreisende <<

    "we need not blow out the candle it dies anyway..." (David Tibet)
     
    "Diese Nacht wird anders als die anderen Nächte sein", dachte Johannes als er durch die schmalen dunklen Gassen auf dem Weg zu der kleinen Kirche war. 
    Eine auf dem Rücken liegende Mondsichel hing in einem Sternenmeer, aus dem die Unendlichkeit troff. Das Städtchen selbst lag überwiegend im Schlafe, die Fensterläden waren geschlossen, nur hie und da sah er Kerzenlicht hinter einer der kleinen Butzenglasscheibe flackern. Eine Katze maunzte irgendwo auf einem nahen Dach durch die Stille, die über allem hing; und es war kalt, nicht mehr so lau wie noch vor ein paar Wochen. 
    Da! Das Licht einer Laterne schnitt durch die Dunkelheit, der Nachtwächter; Johannes sprang in den Schatten eines nahegelegenen Toreingangs. "Eigentlich verrückt", sagte er im Stillen zu sich selbst, und dies nicht das erste Mal, "habe ich doch nichts zu verbergen". Trotzdem war er bei seinen nächtlichen Spaziergängen zum Glockenturm immer vorsichtig gewesen und dem Nachtwächter stets aus dem Wege gegangen. 
    Tatsächlich bog jener nicht in die enge Gasse ein, in der Johannes sich befand, und nach einigen weiteren Atemzügen traute sich er sich aus dem sicheren Versteck der Tür. Das Licht der Laterne war gerade hinter einer Häuserecke verschwunden. Mit einem Seufzen setzte er seinen Weg zur Kirche fort...
    Johannes war der Glöckner der Kirche, und hatte auch, als die kleine Gemeinde vor einem Jahr eine Kirchturmuhr erhielt, die Aufgaben des Uhrwächters mit übernommen. Dabei war ihm, mehr durch Zufall, in einer Nacht zwischen den großen Zahnrädern einer wundersame Entdeckung gekommen: Er konnte mit Hilfe des Uhrwerks durch die Zeit reisen! 
    Er wollte in jener Nacht einen Uhrwerksfehler beheben und dabei hatte er fasziniert der sich bewegenden Mechanik zugeschaut; er muß wohl Stunden in dem Glockenturm verbracht haben, als ihm auf einmal, seine müden Augen schauten gerade auf ein sich im Kreise bewegendes Rädchen, auffiel, daß sich auf dem Zahnrad Schriftzeichen befanden. Seinen Augen kaum trauend, verfolgte er Buchstabe um Buchstabe und laß dort eine versteckte Anleitung. 
    Er hatte zwar vorher schon Buchstaben auf den Bauteilen gesehen, hatte jedoch nicht weiter auf sie geachtet; doch jene hier waren anderer Art, sie gaben keinen Namen des Erbauers der Uhr preis, es war eine Art Unterweisung. Zwei volle Wochen verbrachte der Uhrwächter damit, die sich gleichbewegenden Teile zu studieren und machte Seite um Seite Notizen. Bis tief in die Nacht verweilte er so bei flackerndem Kerzenschein. Oft schlief er zwischen dem tickenden Zeitmeßgerät ein, wurde dann nur durch den lauten Glockenschlag wieder wach. So wurde er manchmal tagelang nicht gesehen. 
    In dem Städtchen war gemunkelt worden, daß der Glöckner nun sehr sonderbar, wenn nicht sogar verrückt geworden war. Befand er sich doch Stunden, gar Tage in seinem Glockenturm und schaute dem Verlauf der Zeit zu. Selbst Nachts, wo normale Menschen schlafen würden, schien aus dem kleine Dachfenster des Uhrenturmes noch Licht. Einige glaubten sogar, daß es an der Uhr selbst läge, und meinten, es wäre doch besser die Zeit an dem Stand der Sonne zu messen. Andere meinten, der arme Glöckner wäre durch das Ticken nun endgültig des Verstandes beraubt worden, aber man hätte ja schon immer gewußt, daß jener ein Sonderling und nicht bei klarem Verstand war, denn nach dem Tode seiner Frau vor zwanzig Jahren hätte es ihm doch an einem klarem Lebensweg gemangelt. 
    Johannes verweilte währenddessen in dem Turme und schaute immer mehr fasziniert auf dieses sich drehende, schwingende und surrende Uhrwerk. Mit seinen Händen sanft über jedes Teil gleitend, entzifferte er jedes einzelne Wort. Bei manchen Teilen, die sich besonders langsam bewegten, brauchte er Stunden um ein neues Wort zu bekommen. Teilweise baute er einzelne Räder aus, um besser an die Beschriftungen derselben zu kommen 
    Nach einer Woche wurde ihm bewußt, daß der Erbauer hier ein Erbe hinterlassen hatte, welches wortwörtlich Dimensionen sprengte... das Geheimnis, durch die Zeit zu reisen! 
    Und in jedem der ineinandergreifenden Zahnräder, der blanken Federn und hölzernen Hebeln waren Wörter, ja selbst Zeichnungen eingraviert, und Johannes untersuchte jedes noch so kleine Teil des gigantischen Uhrwerks auf Wörter, auf daß ihm ja nichts entgehen würde. 
    Der Erbauer der Uhr wollte seine Entdeckung der Nachwelt und jemandem, der ebenso eine Hingabe zu dem Zeitmeßgerät hatte wie er selbst, weitergeben. Er brauchte noch eine weitere Woche, um den Mut aufzubringen, diese Erfindung das erste Mal auszuprobieren.
    Saß Johannes nun in dem Glockenturme, inmitten des gigantischen Uhrwerks, und bewegte hier ein verborgenen kleinen Hebel, zog dort eine Feder auf oder entfernte eine Sperre, die ein bestimmtes Zahnrad festhielt und löste zu Schluß jenen winzigen Griff mit dem hölzernem Knauf, so kamen Räder und Rädchen im Schwung, Federn surrten, einige Gewichte schwangen - und dann, nach einer Weile, ein kurzes Surren; ein Schwingen und die Zeit kroch zurück... 
    Der Glöckner hatte natürlich sofort versucht mit dem Erbauer der Kirchturmuhr zu sprechen, doch dieser war, so erfuhr er, fast unmittelbar nach dem Bau der Uhr gestorben. 
    Am Anfang drehte er die Zeit nur ein wenig zurück, erst ein, zwei Tage - später dann um Jahre; und als er sich es zutraute, um Jahrzehnte. 
    Er konnte in der Zeit nichts verändern, nur als stiller Zuschauer in alte Zeiten blicken: Seiner Geburt wohnte er bei und dem ersten Kuß mit Marlene, an diesem wunderbaren Erntedankfest am Ende eines heißen Sommers. Sie beide lagen unter einem klarem Sternenhimmel im Gras, eine leichte Brise wehte und wischte die Hitze des Tages von ihren Gesichtern, in der Ferne hörten sie das Gelächter der Dorfbewohner. 
    Bestimmt waren sie nicht die Einzigen, die in dieser zauberhaften Nacht verliebt in die Sterne blickten. Das Zirpen der Grillen, der Schrei eines Käuzchens und doch schien es, als wäre diese Nacht nur für sie beide... 
    Im nächsten Frühjahr heirateten Marlene und er, und rückblickend wußte Johannes, daß er niemand mehr so lieben würde wie sie... 
    Sie starb in einem harten Winter an einer Lungenentzündung, Oh, welch furchtbare Zeit war das! Ohne seine geliebte Frau; doch Johannes hatte seine Trauer um Marlene schließlich mit der Gewißheit überwunden, daß er seine Frau irgendwie wiedersehen würde. Viele Leute in dem Städtchen dachten, daß er verwirrt sei, weil er nicht wieder geheiratet und beschlossen hatte, ohne Frau zu leben. 
    Außerdem war er an der Krönung des alten Königs noch einmal zugegen, oh ja, jener war ein guter und gerechter Herrscher gewesen und seine Krönung war damals ein wahrlicher Prunktag gewesen... 
    Johannes reiste in viele für ihn bedeutungsvolle Momente und Stunden in seinem Leben zurück und viele, im Schleier des Vergessens verlorene, Erinnerungen wurden wieder lebendig. 
    Des öfteren reiste er auch einfach in die Zeit zurück, in der die Kirchturmuhr gebaut wurde, er schaute hier dem Erschaffer der Uhr über die Schulter und lernte somit die komplizierte Mechanik noch besser kennen. Johannes liebte es, mit welcher Hingabe er all die Teile zusammenfügte, hier und dort mit seinen geschickten Fingern unzählige Zahnräder zusammenfügte, summend eine Schraube anzog, an manchen Stellen einen Tropfen Öl hinzugab oder auch nur wie er das halbfertigen Uhrwerk mit glänzenden Augen anschaute. Aus einem schieren Wust von unzähligen Teilchen, wurde hier ein Werk erschaffen, von dem die Menschheit nur träumen konnte und dieser einfache Uhrmacher hatte die Möglichkeit, die Zeit mit seinen Händen zurückzudrehen... 
    Doch brachte der Uhrenwächter jedesmal auch ein wenig Schwermütigkeit mit, kam er aus der Vergangenheit zurück - konnte er doch nicht mit dem Erbauer oder anderen Personen, insbesonders mit Marlene, sprechen. Hätte er doch von ganzen Herzen sich noch einmal gewünscht zu Marlene sagen zu können, daß er sie lieben würde! 
    Wieviele Fragen hätte er an diesen alten weißhaarigen Mann gehabt, wie gerne hätte er sich mit ihm über jenes wunderbare Werk unterhalten welches er geschaffen hatte; doch - Johannes konnte nie in irgendwelche Situationen eingreifen oder etwa mit Personen sprechen. Irgendwann auf einer Zeitreise war sogar ein Mann mitten durch ihn hindurchgegangen; er mußte also, verweilte er in der Vergangenheit, eine Art Unsichtbarkeit besitzen. 
    Zu seinen Zeitreisen brach Johannes stets in der Nacht auf, da er am Tage Angst hatte entdeckt zu werden oder auch jemandem zu schaden; so schlich er sich, wie auch in dieser Nacht, zum Kirchturm mit der Uhr, um zwischen dem Ticken und Verlaufen der Zeit selbst in andere Zeitdimensionen aufzubrechen.... Hatte er indes immer nur eine Stunde Zeit, von Glockenschlag zu Glockenschlag. 
    Tatsächlich sollte diese Nacht anders als die vorhergegangenen Nächte sein - der alte Uhrwärter wollte diese Nacht das erste Mal in die Zukunft schauen. Ganz wohl war ihm nicht bei dem Gedanken, hatte der Schöpfer der Uhr nicht davor gewarnt, die Zeitmaschine anders als für die Vergangenheit zu benutzen? Andererseits hatte er nun mehrere Nächte die schwierigen Aufzeichnungen des Uhrmachers studiert und konnte auf keinen Nachteil oder Irrtum treffen. Warum sollte das Uhrwerk nicht auch in die andere Richtung funktionieren? 
    Er wischte den Gedanken beiseite. Die kühle Nachtluft ließ ihn ein wenig frösteln und er beschleunigte seinen Schritt ein wenig...
    In der Schenke brannte noch Licht, also waren doch noch nicht alle Stadtbewohner im Bett. Ein Betrunkener torkelte in die Kühle der Nacht hinaus, doch Johannes lenkte seinen Gang schnell in das nächste Gässchen. Das Bellen eines Hundes durchbrach die Stille und Sekunden später bekam dieser auch Antwort von seinen Artgenossen, doch nach diesem kurzen Intermezzo fiel das Städtchen wieder in seinen Schlaf zurück. Vor ihm erhob sich bereits der Glockenturm und in ihm die Uhr, gegen den unendlichen Sternenhimmel... 
    Die Tür des Turms war nicht verschlossen, und selbst wenn, hatte er ja auch einen Schlüssel. Johannes schloß schnell die Tür hinter sich und entzündete den fünfflammigen Messingkandelaber, der in einer Fensterleibung stand, mit einem Streichholz. 
    Nun, im flackernden Kerzenlicht, begann er die knarrenden Stufen der hölzernden Treppe hinauf zu steigen, dem tickenden Zeitmeßgerät entgegen. Die steile Treppe wurde auf einem Absatz schließlich zu einer schmalen Leiter, die an ein Falltür endete. Hier oben unterhalb des Uhrwerks war das Ticken schon erheblich lauter und schien es ihm doch hier immer wieder, als ob ihn die Zahnräder und Federn erwarteten; gab er ihnen schließlich etwas anderes, als nur die Zeit abzuzählen. 
    Hinter der Falltür schließlich tickte es so laut, daß die Luft, die er atmete, vermeintlich mit purer Zeit gefüllt war. Dieses Ticktack der Uhr erinnerte einen stark an die Vergänglichkeit des Daseins und der allzu kurzen Zeit, welche ein Mensch im Leben doch hatte... 
    Mit dem Kerzenleuchter in der Hand stand er dann einige Minuten einfach da und sein Blick glitt nahezu liebevoll über die Mechanik, scheinbar begrüßten ihn die Gewichte mit einem kleinen Nicken, einem zusätzlichen Pendeln, die Federn mit einem etwas lauterem Surren und die Zahnräder mit einer winzigen extra Umdrehung, die für das ungeschulte Auge kaum sichtbar war. 
    Die Falltür geschlossen und die Hand an den ersten Hebel gelegt, begann Johannes die Einstellungen für diese heutige Reise vorzunehmen - vor in die Zeit. Scheinbar war das Zahnwerk ein wenig befremdet über die unüblichen Vorgänge, vorsichtig glitten seine Hände hier über einen bestimmten Hebel und versuchten ihn in die andere Richtung umzulegen. Allerdings hatte der Erbauer an dem kleinen Hebel mit dem Holzknauf einen Widerstand eingebaut, "Verdammt, warum nur?", dachte Johannes, während er die Schraube löste. Jetzt würde es funktionieren! War da ein ungewohntes Knirschen in dem Uhrwerk? Wie ein Ausruf? Fast als ob es dem mechanischem Gebilde widerstrebte, in die von Johannes vorgegebene Richtung zu laufen... 
    Die neuen unüblichen Bewegungen der Teile ließ ihn für eine kurze Weile innehalten, bevor er die große silberfarbene Feder aufzog, auf der das Öl glänzte, und meinte indessen an dieser Stelle einen Widerstand des Metallteils zu spüren. 
    Auf keinem der Teile war eine einzige Rostspur zu finden und er war jedesmal, das mußte er insgeheim zugeben, stolz darauf. 
    So, dieses Gewicht in seiner Lage verändern und jenen Haken des Zahnrades umsetzen - gleich mußte die Zeit ihren Gang nehmen... 
    Da schlug die Uhr einmal. 
    Durch das kleine Dachfenster in die Sterne schauend, gab Johannes, mit feuchten Händen und einem schnellerem Atem als sonst, den letzten Hebel mit dem Holzknauf frei, und die Feder begannen sich, unmerklich für das menschliche Auge zu entspannen; mit klopfenden Herzen schaute er auf die sich umgekehrt laufende Mechanik. Das kleine Rädchen vorn ließ ein surrendes Geräusch hören, weitere Räder begannen ihren Lauf aufzunehmen, ein Klicken. Da! Das bekannte Surren - gleich, gleich mußte er aufbrechen, in die Zukunft! Nur einen Tag weiter... nach Morgen. 
    Mit einem lautstarken Schnarren, von welchem er meinte es wäre noch im nächsten Dorf zu hören, setzte sich das große, von Öl glänzende, Zahnrad im tanzenden Kerzenschein in Bewegung. 
    "Auf in einen ungelebten Morgen!", dachte Johannes, "in die Zukunft..." 
    Doch schlagartig, wie ein Blitz durchfuhr ihn ein Gedanke. Plötzlich fiel ihm der Grund der Warnung ein! Doch die Zahnräder begannen ihren schicksalhaften Lauf durch die Zeit, ein Pendel schwang traurig, die Federn entspannten sich unendlich langsam... 

    Johannes weinte noch eine kleine Träne, doch bevor diese zu Boden fiel, hatte auch sie sich zu Staub verwandelt, wie auch der Rest von dem unglücklichen Uhrwächters und der letzte Gedanke schwebte mit ihm davon..."Morgen existiert noch nicht"... 
     
    © 1996 Christian P. Blutfeuer