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    >> 8882 - Die Kommode <<

     
    Steilwandig 
    baut sie sich auf, der 
    Himmel darüber 
    nur zu ahnen; 
    blank und solide die 
    Fronten, selbst 
    dort, wo sie in 
    feuchtem Erdreich 
    gründen. 
    Unzählige 
    Schubladen und Lädchen, 
    Fächer und Nischen 
    züngeln und zischen im 
    Wind. 
    Plötzlich gegenwärtig / schier unüberwindlich 
    scheint sie, 
    doch führen Griffe 
    steigeisenartig 
    hinauf, verschwinden 
    im Nebel morgenschwangerer Baumkronen.
    Das Moos 
      unter den 
        Füßen 
          samtweich, 
            der Boden 
              erdig/feucht.
        "Hast Du mein Lämmleich geseh'n zur 
        Abendstunde? Es irrt lang wohl 
        schon umher, wiewohl ich 
        seinen Namen schier vergaß."
    Gewaltig die unteren 
    Schubfächer - und 
    sinnlos leer: 
    Lediglich frischfeuchte 
    Flecken glitzern darin - wie 
    Wasser im Morgenlicht; 
    Darunter die Läden im 
    Erdreich, vor 
    jeglichem 
    Zugriff verschlossen. 
    Mein Fuß findet 
    sicheren Halt am 
    Beschlag der untersten Lade: 
    Es folgt das langsame Erklimmen 
    nicht endender immerneuer 
    Etagenfronten; 
    Eisenwälder hinauf. 
    Mein Atem geht ruhig 
    und weiß.
        "Mein Lämleich war schneeweiß, 
        glaub' ich, und immer froh, glaub' ich, 
        und seine Stimme ein 
        Farbtupfer im sonnigen 
        Tal - das ganz gewiß!"
    Plötzlich kleinere Fächer, 
    leicht zu öffnen, ebenfalls 
    leer, lediglich angetrocknete 
    Flecken darin, flächig und 
    dunkelrot (wie von Wein). 
    Mein Atem geht ruhig 
    und weiß.
    Einst stand ich 
      auf weichem Moos 
        und war Eins mit den 
          Träumen. Meine Geliebte 
            war der Wind, sie strich 
              mir immerfort durch' s Haar.
    "Du Narr!" hatte der 
    König ausgerufen, als die 
    Zauberkugel in 
    tausendundeine Scherbe zerbarst. 
    Ohnmächtig der Griff 
    in die Splitter, sie 
    wieder zu fügen. 
    Blutrot 
    glitzert das Glas.
    Mich abwendend von 
    immergleichen Fronten 
    ein Blick hinab 
    in die Tiefe, 
    so hoch bereits 
    und doch 
    so fern den Wipfeln!
    In dumpfem 
      Grünbraun 
        räkelt sich 
          Mutter Erde.
            Schwindelgefühl!
    Hastiges Erfassen 
    des nächsten lockeren Griffes, 
    der unsicheren Halt gewährt. 
    Unvermittelt 
    ändert sich das Bild: Andere 
    Fronten, andere Fächer. 
    Sie verkanten, klemmen, die Griffe versagen 
    ihren Dienst. 
    Aus dem halbaufgerissenen 
    Maul einer Schublade steigt 
    warm und stickig 
    ihr dumpfer, bedrückender 
    Atem hervor. 
    Ich kann ihn greifen, 
    einen Sekundenbruchteil lang, 
    muß ihn lassen und nicht 
    abzustürzen, greife wieder zu, 
    vergeblich. 
    Die Hast der Bewegung 
    raubt mir den Halt: 
    Blindes Nachfassen, 
    Zucken, 
    Schmerzen, 
    spritzendes Blut. 
    Die weiß klaffende 
    Innenseite der Lade 
    pulsiert rotflüssig. 
    Mein Atem geht ruhig 
    und weiß, 
    geht ruhig 
    und weiß 
    hinein. 
    Blut/Atem - Atem/Blut 
    milchweiß geronnene Jahresringe, 
    Schwindel, Taumel, 
    embryonaler Zeitsprung.
        "Ich hab' Deine Lämmlein wohl 
        geseh'n zur Abendstunde. 
        Sie bluteten, als der Wolf sie zerriß, 
        schrien und zuckten 
        dem Tode entgegen: Ihre stinkenden 
        Kadaver liegen blutrot verstreut!"
    Oben angelangt 
    und ganz nah die 
    grünbraune Erde; hier 
    oben ist Nichts, 
    nur das Rauschen des Windes 
    in jenen fernen Baumkronen. 
    Die Hand schmerzt ein wenig, 
    ein kleiner Satz hinab, und meine 
    Füße versinken im samtenen Moos 
    und die Wunden finden Kühlung 

    im locker geschmiegten Waldboden. 
     
    © Volker Hatlauf