Engel am Weihnachtsbaum 
Mit einem großen Topf voll dampfendem Braten kam Mutter aus der Küche. Sie ging damit ins Esszimmer und rief Julia zu, sie solle ihren Vater holen. „Sag ihm er soll sich beeilen, sonst wird alles kalt!“ Julia lief zum Arbeitszimmer und riss die Türe auf. „Komm zum Essen Papa. Aber schnell, sonst wird die Köchin sauer!“ „Sofort“ antwortete er, „ich muss nur noch einen wichtigen, geschäftlichen Brief suchen. Den hab ich scheinbar verlegt.“ Versonnen begann er in Schubladen zu kramen, und durchsuchte diverse Papierstapel auf dem Tisch. „Musst du denn selbst an Weihnachten arbeiten?“ Julia war außer sich. „Den ganzen Tag denkst du nur an deine Akten. Heilig Abend ist doch ein Tag zum Entspannen!“ Erst sah es so aus als wolle er ihr nicht antworten. Schließlich blickte er jedoch auf, und sagte mit sanfter Stimme „Wenn du mal so alt bist wie ich wirst du verstehen, dass Weihnachten auch nur ein Tag wie jeder andere ist.“ Er überlegte. „Natürlich freue ich mich auf den Braten, und die festliche Stimmung ist sehr angenehm, aber da ist nichts warum man nicht arbeiten sollte. Ich bin froh wenn ich einmal ein paar Tage das ordnen kann, was sonst über Wochen unbeachtet herumliegt.“ Er schien zu bemerken, dass seine Tochter mit dieser Erklärung ganz und gar nicht einverstanden war, und klappte den dicken Aktenordner zu. „So, jetzt komm, gehen wir essen. Und dann schauen wir mal was das Christkind alles mitgebracht hat.“ Er zwinkerte ihr zu und nahm sie bei der Hand. 

Mutter verteilte gerade den Braten auf die Teller, als die beiden das Esszimmer betraten. „Das duftet ja köstlich!“ Vater ließ sich mit einem Seufzer auf seinen Stuhl sinken und genoss sichtlich den ersten Bissen. Julia gegenüber saß ihr kleiner Bruder Gregory. Er gab sich sichtlich Mühe still sitzen zu bleiben, und stocherte lustlos in seinem Braten herum. „Ich habe keinen Hunger.“ stieß er kleinlaut hervor. „Wann gibt es denn endlich die Geschenke?“ Vater klang leicht gereizt als er antwortete. „Wenn du keinen Hunger hast Greg, dann brauchst du nichts zu essen. Aber uns lass jetzt bitte in Frieden.“ Daraufhin herrschte Stille, und auch die Stimmung war etwas gedämpfter als zuvor. Julia schluckte den letzten Bissen Braten hinunter und rief: „Fertig, jetzt können wir doch endlich Geschenke auspacken.“ Vater rollte mit den Augen. „Erst muss der Tisch abgeräumt werden, und solange ihr das macht, werde ich noch schnell meinen Brief suchen. Mir ist gerade eingefallen wo er noch stecken könnte.“ Als er hinausgegangen war, schimpfte Julia los. „Das macht mich noch wahnsinnig, dass er nicht mal an Weihnachten seine Arbeit vergessen kann!“ Ihre Mutter zuckte nur mit den Schultern und entgegnete ihr lächelnd: „Du wirst das schon noch verstehen wenn du älter bist.“ Julia resignierte. „Genau das hat er mir auch gesagt.“ Schweigend hingen sie ihren Gedanken nach. „Wenn du willst kannst du ja schon mal die Kerzen am Baum anzünden.“ Ihre Mutter war sichtlich bemüht das Thema zu wechseln. „Ich helfe Julia“, kam es von Gregory. „Nein, zum Zündeln bist du noch viel zu klein“ sagte die Mutter streng, und begann die Teller vom Tisch zu räumen. 

Achselzuckend ging Julia hinaus und öffnete die Tür des Wohnzimmers. Sie erstarrte. Vorsichtig schlüpfte sie hinein und schloss die Pforte leise hinter sich. Eine als Weihnachtsmann verkleidete Gestalt stand unter dem Tannenbaum, und hatte Julia noch nicht bemerkt. Der Mann war gerade dabei, die Kerzen zu entzünden und kleine Äpfelchen an den Zweigen zu verteilen. Julia trat leise hinter seinen Rücken und rief: „So sieht also dein wichtiger Brief aus!“ Ihr Vater zuckte zusammen und drehte sich um. Er hatte sich einen dichten, weißen Rauschebart umgehängt, der nur Nase und Augen aussparte. Julia trat vor und gab ihm einen Kuss auf die Nase. „Da wird sich Greg aber freuen! Ich hätte mir ja denken können, dass dir Weihnachten doch nicht so gleichgültig ist wie du immer sagst.“ Er lächelte verlegen, nahm einen kleinen Engel, der sie freundlich anzublinzeln schien und hing ihn an die Spitze des Baumes. Dann brummte er zufrieden unter dem Bart hervor, öffnete die Balkontür und ging hinaus. Julia runzelte die Stirn und sagte laut „Auch wenn du der beste Papa der Welt bist, könntest du doch wenigstens an Heilig Abend auf deine Zigaretten verzichten! Ich hol dann mal Mama und Gregory.“ 

Kopfschüttelnd wandte sie sich ab und wollte gerade die Zimmertür öffnen, als diese von außen aufgestoßen wurde. Ihre Mutter, Gregory und ... ihr Vater kamen herein. Julia wurde blass und sah die geöffnete Balkontür an. „Das ist ja lieb von dir, dass du die Kerzen schon angezündet hast, aber warum um Himmels willen hast du denn gelüftet?“ Ihr Vater schloss die Tür zum Balkon. „Das wird ja eisig kalt hier drinnen.“ Als Julia noch immer nichts sagte, beobachtete ihr Vater sie sorgenvoll. „Ist irgendwas, Kleines? Du bist ja ganz blass!“ „Mama, Papa. Ich, ich glaub ich hab gerade den Weihnachtsmann gesehen!“ brachte sie hervor. Ihre Eltern sahen sich verständnislos an. Dann begann die Mutter zu grinsen. „Kann es sein, dass du für dein Alter ein Bisschen kindisch bist?“ Julia antwortete nicht darauf. Sie blickte ihre Eltern an, die beiden Erwachsenen, für die Weihnachten zwar ein Feiertag, jedoch kein besonderer Tag mehr war. Dann sah sie auf Gregory hinunter, der mit weit geöffneten Augen, staunend vor dem Tannenbaum saß und einen kleinen Engel fixierte, der ihm freundlich zublinzelte. Ja, dachte sie, ich bin kindisch. Ich will kindisch sein, und ich will es auch bleiben!