Das Bernsteinamulett 
Mit ausdrucksloser Miene blickte Elenor aus dem Fenster ihres hohen Turmzimmers. Dichte Wolken verdunkelten das Land soweit das Auge reichte. Die kalte Winterzeit war längst angebrochen und es roch überall nach Schnee, es würde nicht mehr lange dauern bis die ersten samtweichen Flocken den Boden berühren würden. Bald würde das Land von einer weißen Decke umhüllt daliegen, doch sie würde es nicht mehr sehen. Die letzten Vorbereitungen für ihre Abreise waren bereits getroffen worden. Das ganze Schloss befand sich noch immer in einer Hochstimmung. Vor wenigen Tagen hatte der König bekannt gegeben, dass Elenor, seine Tochter, am Heilig Abend Prinz Gregor ehelichen wird. Das gesamte Volk war in Jubelgeschrei ausgebrochen, nur die zukünftige Braut blickte gleichgültig der Menge entgegen. 

Sie hatte kein Interesse daran den Prinzen zu heiraten, sie hatten ihn bisher noch nicht einmal zu Gesicht bekommen und wusste nichts über ihn. Doch es spielte auch keine Rolle für sie, sie wusste, dass sie ihn nie lieben könnte, weil sie bereits vor langer Zeit ihr Herz verschenkt hatte. Doch ihr Vater bestand trotzdem oder vielmehr genaus deswegen auf der Hochzeit. Er billigte die Wahl ihres Herzens nicht. 
"Kind sei vernünftig! Er ist nicht wie wir! Er ist noch nicht einmal ein Mensch, er lebt auf Bäumen! Dieses Elfenpack ist nichts für uns. Sie mögen so aussehen wie wir aber sie sind es nicht! Du verdienst etwas Besseres, so wie den Prinzen Gregor!", hatte er zu ihr gesagt. Doch sie wollte es nicht hinnehmen. Noch in der selben Nacht als der König ihr seine Entscheidung mitgeteilt hatte, schlich sie aus dem Schloss um ihrer wahren Liebe ihren Kummer zu erzählen. 

Sie hatte den Waldrand kaum erreicht, als Nathanael aus dem Tannendickicht hervortrat, doch das überraschte sie nicht, denn auch wenn sie sich nie erklären konnte warum, wusste er immer ganz genau wann sie ihn aufsuchen würde. 

So war es auch in dieser Nacht nicht anders gewesen. Lächelnd trat er ihr entgegen und sie fiel schluchzend in seine ausgebreiteten Arme. Unter Tränen erzählte sie ihm von den Plänen ihres Vaters und ihrem Wunsch das Reich zu verlassen um für immer bei ihm zu bleiben. Schweigend hörte er ihr zu und strich ihr sanft über die Wange als sie geendet hatte. Und nie würde sie den Klang seiner Stimme und die Worte vergessen die er dann an sie richtete. "Du kannst nicht bei mir bleiben! So sehr ich es mir auch wünschen würde. Aber um keinen Preis würde ich dich deiner Familie entreißen! Du magst jetzt einen Groll gegen sie hegen, aber mit der Zeit würden die Wunden heilen und du würdest verzeihen, und was dann? Du könntest nie wieder einfach so in deines Vaters Reich spazieren und ihn um Verzeihung bitten. Dein Vater hat Recht, mein Volk ist anders. Nicht im schlechten Sinne, wie du weißt, aber viele glauben das und es wird Zeit brauchen bis die Menschen verstehen, dass wir keine Gefahr für sie darstellen. Wenn du bei mir bleibst, ohne das Einverständnis deines Vaters, würden sie dich verstoßen. Du würdest deine Familie nie wieder sehen, und auch wenn dir  das jetzt unwichtig erscheinen mag, es wird die Zeit kommen in der du dich nach ihnen sehnst."
Niedergeschlagen blickte sie ihn an. Sie wusste, dass er Recht hatte, doch sie wollte es nicht.  
"Ich möchte dir zum Abschied etwas schenken, aber du musst gut darauf achtgeben!" Mit diesen Worten legte er ihr ein Amulett um den Hals, dass im Mondlicht Goldgelb schimmerte. "Wenn du in Gefahr bist, Hilfe brauchst, oder dich einfach nur einsam fühlst, dann berühre es und denke mit der ganzen Kraft deines Herzens an mich, und ich  werde bei dir sein. Aber bedenke, es funktioniert nur ein einziges Mal! Also wähle gut!"
Eine letzte innige Umarmung und er war in der Dunkelheit des Waldes verschwunden. 
Jetzt in der Stille ihres Zimmers lächelte sie auf das Schmuckstück um ihren Hals herab. "Das werde ich, versprochen!"

Der Schneefall hatte bereits eingesetzt, als sie, in warme Felle gehüllt, mit ihrem Vater das Schloss verließ. Er saß ihr in der Kutsche gegenüber und beobachtete sie schweigend. Sein Herz wollte zerspringen beim Anblick ihrer traurigen Augen die gedankenverloren hinaus auf die Wiesen blickten. Doch er hielt daran fest, dass es das beste für sie sein würde.

Elenor rief sich noch einmal die schönen Momente zurück die sie mit Nathanael verbringen durfte. Den Winter hatten sie immer besonders geliebt. Während die Kinder im nahegelegenen Dorf Schneemänner bauten, hatten sie ganze Städte aus Eis und Schnee erschaffen. Und das wunderbare Geräusch, wenn sie zusammen Hand in Hand spazieren gingen und ihre Fußspuren im frisch gefallenen Weiß hinterliesen. Doch gerade diese hatten sie zum Schluss verraten. Der letzte Winter war sehr kalt gewesen und der König schickte Männer aus um seine Tochter ins warme Schloss zurückzubringen. Dabei hatte er erfahren mit wem sie ihre Tage verbrachte und sofort nach einem Weg gesucht um die Beiden von einander zu trennen. 
Und nun befand sie sich auf dem Weg in ihr neues Königreich, in das sie gar nicht wollte. 
Ein Röcheln riß sie aus ihren Gedanken. 
Ihr Vater starrte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht an und hielt sich die Hände vor die Brust. Er war leichenblass und bekam keinen Laut über seine Lippen, nur ein um Hilfe flehender Ausdruck lag in seinen Augen. 

Sofort schrie Elenor den Wachen die sie begleiteten zu, sie sollen anhalten und helfen. Doch sie wusste auch dass es alles nur einfache Soldaten waren, kein Heiler war unter ihnen. Was sollte sie nur tun? Gewiß war sie vor wenigen Sekunden noch in Zorn gegen ihn gewesen, aber seinen Tod wollte sie nicht. 
Plötzlich spürte sie eine bleierne Last auf ihrer Brust. Das Amulett! Sollte sie es wagen? Würde Nathanael ihrem Vater helfen können? Oder würde sie die einzige Möglichkeit ihn jemals wiederzusehen verschenken? Es blieb keine Zeit um darüber nachzudenken, auch wenn Nathanael ihm nicht helfen konnte, so musste sie es wenigstens versuchen. 
Mit beiden Händen umschloss sie das Schmuckstück und dachte mit der ganzen Liebe in ihrem Herzen fest an Nathanael. Sie spürte wie das Amulett zu Beben begann und ein Lichtschein darauß hervortrat, der sie im ersten Moment blendete, sich dann aber wohlig warm über die ganze Umgebung ergoß.
Und da stand er plötzlich vor ihr, von dem selben Licht umhüllt. Wissend nickte er ihr zu und beugte sich über ihren Vater. Die Soldaten um sie herum wussten nicht was sie tun sollten. Sollten sie den Fremden angreifen? Aber war das überhaupt möglich? War er real? Und wenn, die Königstochter hatte ihn offenbar gerufen, durften sie ihn dann überhaupt angreifen? Unschlüssig standen sie da und beobachteten einfach nur gebannt was geschehen würde. 

Elenor konnte zwar nicht hören was Nathanael zu ihrem Vater sprach, aber sie sah wie sich sein Mund bewegte und er mit der Hand immer wieder über die Brust des Königs strich. Plötzlich umspielte ein erleichtertes Lächeln dessen Lippen und Elenor befürchtete er hätte sein Leben ausgehaucht. Doch als sie in die strahlenden Augen Nathanaels blickte wusste sie, dass das Gegenteil der Fall war. Er hatte ihn gerettet, und genauso schnell wie er erschienen war, verschwand er auch, und mit ihm die angenehme Wärme des Lichtes. In diesem Moment erwachten die Soldaten aus ihrer Erstarrung und blickten den König fragend an.
"Wahrlich das muss Hexerei gewesen sein, aber sie hat mir das Leben gerettet. Und vom heutigen Tag an will ich aus keinem Munde mehr etwas schlechtes über das Elfenvolk hören. Denn ein gemeines Volk hätte mir nie diesen Dienst erwiesen. Von nun an sei jeder Elf in meinem Reich willkommen!
Und um meine Dankbarkeit zu beweisen, möchte ich die Verlobung meiner Tochter mit dem Prinzen Gregor auflösen und sie stattdessen dem Elfenprinzen Nathanael zur Frau geben, auf dass unsere Völker auf Ewig in Frieden miteinander leben mögen!"
Elenor konnte ihr Glück kaum fassen.
So wurde sie an Heilig Abend mit ihrer wahren Liebe vermählt.

END