Marios Weihnachtswunsch 
(entstanden im Dez.1995 / Richard Cieslar)
Wer von Euch hat nicht in letzter Zeit an seinen Wunschzettel für die große Bescherung am Heiligen Abend gedacht? Hat ihn mit der schönstmöglichen Schrift zu Papier gebracht und den Eltern übergeben, denn die wissen bekanntlich, wo er hingehört?

Und wie jedes Jahr ist es eine ganz schön lange Liste geworden - angefangen von den zwei neuen Spielen für den Gameboy über die Rollerskaters bis hin zur Schiausrüstung oder der nagelneuen Sportdreß des Lieblings-vereines. Nun, das Christkind kennt die Geldsorgen unseres Finanzministers hoffentlich nicht ...

Auch meine Geschichte handelt von Weihnachtswünschen und der „Held“ der Geschichte ist ein Bub namens Mario, gerade mal 10 Jahre alt geworden. Er hat so ungefähr die gleichen Hobbys wie Ihr, schwimmt, läuft gerne, liest ab und zu ein Buch, betrachtet die Schule als notwendiges Übel und jagt gern dem runden Leder hinterher. Mario könnte einer von Euch und mitten unter uns sein, wenn, ja wenn er nicht rund 500 Kilometer südlich von uns wohnen würde. Ja, und wenn Ihr im Geographieunterricht gut aufgepaßt habt, dann kommt Ihr auch drauf, wo Mario wohnt - nämlich da, wo früher einmal Jugoslawien war, ganz genau in Kroatien.

Wie Ihr wohl wißt, gibt’s in Kroatien einige unvernünftige Erwachsene, die dafür gesorgt haben, daß Menschen, die Nachbarn oder gar Freunde waren, plötzlich mit Gewehren aufeinander schiessen - mit ebensolchen Gewehren, wie sie vielleicht bei dem einen oder anderen von Euch als (nachgemachtes) Spielzeug unterm Christbaum liegen werden. Ja, leider werden manchmal auch nicht so kluge Weihnachtswünsche erfüllt - denn der Wunsch nach einem Kriegsspielzeug scheint mir wirklich völlig sinnlos!

Nun, zurück zu Mario, der wie gesagt im Kriegsgebiet lebt. Aus dem schönen, großen Haus mit Garten und Swimming-Pool mußte die Familie flüchten. Seither drängen sich Mario, seine zwei Schwestern und die Mutter bei Marios Großeltern in deren Wohnung im Zentrum der Großstadt. Bis auf zwei Scheiben gingen alle bei den Bombenangriffen im Lauf der Zeit kaputt. Der Balkon ist nicht mehr da, die Balkontür fest verriegelt, damit nicht jemand unbedacht einen Schritt hinaus macht und die drei Stockwerke in die Tiefe stürzt. Es gibt zwar Strom, aber Stromausfälle sind an der Tagesordnung und auch mit Heizmaterial ist es ein echtes Problem, weil sie nur sehr selten zu bekommen sind. Aber alle helfen zusammen, auch die Nachbarn, und die Familie schlägt sich gerade so durch, lebt vom Notwendigsten und hofft noch immer, daß den Politikern und Generälen endlich klar wird, daß das Volk in Kroatien und den anderen Teilen Jugoslawiens diesen sinnlosen Krieg gar nicht will.

Im letzten Winter war trotz der Kriegswirren alles ein bißchen leichter gewesen, denn Marios Vater war noch da und hatte nach besten Kräften für die Familie gesorgt. Doch im Sommer hatte die Armee auch Marios Vater „zu den Waffen“ gerufen - und seither waren nur selten kurze Briefe gekommen, wie man eben schreibt, wenn einem Gewehrkugeln oder Granaten um die Ohren pfeifen. Seit fast einem Monat kam nun aber gar keine Nachricht mehr, nicht einmal die Militärfunkstation hatte etwas herausfinden können.

Und so saß Mario am ersten Adventsonntag beim flackernden Licht einer kleinen Kerze und schrieb seinen Wunschzettel an das Christkind. Immer wieder blies ein Windstoß die Flamme aus, denn die notdürftige Karton- oder Pappabdeckung in den scheibenlosen Fenstern hielt nur wenig ab. Mit vor Kälte steifen Fingern setzte Mario Wort um Wort auf das Papier. Mußte immer wieder die Kerze neu anzünden, ehe da endlich in zittrigen Buchstaben stand: „Liebes Christkind! Bitte bring mir nur meinen Papa wieder. Und mach, daß keine Bomben mehr fallen. Mehr wünsche ich mir nicht von Dir!“

Manche der Buchstaben waren verwischt, denn immer wieder waren Tränen aus Marios Augen geronnen, wenn er beim Schreiben des Briefes an seinen Vater gedacht hatte. Marios Mutter übernahm die Weiterleitung des Briefes, wie das Eltern eben so tun. Heimlich las sie den Brief (aber nicht weitersagen!), worauf noch einige Buchstaben mehr verwischt waren.

Es nahte der Heilige Abend. Trotz der immer wieder aufflackernden Kämpfe war es den Großeltern und der Mutter gelungen, so etwas wie Weihnachtsstimmung in die frostige, kaum geheizte Wohnung zu bringen. Ein dürres, kümmerliches Nadelbäumchen stand da in einer Ecke, verziert mit ein paar bunten Fäden, an der Spitze steckte ein Papierstern, von Marios älterer Schwester mit viel Liebe gezeichnet und ausgeschnitten. Noch am Vortag hatte die Familie - wieder einmal - wegen Fliegeralarm in den Keller flüchten müssen. Nun hofften alle, daß ihnen wenigstens am Heiligen Abend etwas Ruhe vergönnt sein würde. Zur Feier des Weihnachtsfestes gab es sogar ein mageres Hühnchen - für alle sechs Personen, wohlgemerkt - und dieses winzige Federvieh war schwer genug aufzutreiben gewesen ...

Ja, und mit Geschenken sah es sowieso traurig aus: Für Mario lag da, notdürftig, aber liebevoll verpackt, ein Pullover, damit er weniger frieren sollte. Auch die kleine Schwester hatte eine warme Jacke am Gabentisch liegen und für die große gab’s eine Blockflöte. Dank der Hilfslieferungen - unter anderem aus Österreich - war es möglich gewesen, diese kleinen Geschenke für die Kinder zu bekommen.

Was Ihr jetzt denkt, ist mir klar: Erstens, daß das wohl eine ziemlich traurige Weihnachtsgeschichte ist. Und zweitens, was denn wohl aus Marios Wunsch wurde. Nun, erstens gibt es - und das nicht nur zu Weihnachten - sehr viele solcher trauriger Geschichten, denn vielen Kindern und Menschen geht es nicht so gut wie uns. Und zweitens endet diese Weihnachtsgeschichte doch ein wenig weihnachtlich und fröhlich, denn ...

... am Heiligen Abend, so gegen neun Uhr abends, hält vor dem Haus ein Militärlastwagen mit ziemlichem Getöse. Durch den Lärm aufgeschreckt laufen Mario und seine Familie zum Fenster. In der Dunkelheit erkennen sie einen großen, hageren Mann, der sich von der Ladefläche schwingt und den dort verbleibenden Soldaten zuwinkt. Der Blick des Mannes schweift hinauf zum dritten Stock, er ruft: „Ich bin’s!“ - und die Familie weiß: Der Vater ist wieder da! Die Treppen der drei Stockwerke nimmt der Vater im Blitztempo - und dann liegen sie sich in den Armen: Die Großeltern, die Eltern, die zwei Schwestern und Mario. Und diesmal sind es Freudentränen, die fließen ...