14.12.98
Arme, reiche, einsame, gesellige, traurige, frohe Weihnacht
Seit sechs Uhr ist die alte Frau auf den Beinen. Nach dem Aufstehen in der kleinen Küche Tee gekocht, das Blatt vom kitschigen Kalender abgerissen, den sie Ende letzen Jahres von der Sparkasse bekommen hatte. Den 24. Dezember zeigt der Kalender nun, als die alte Frau ihr Brot mit Marmelade ißt und ihren Tee trinkt. Für mehr reichte die knappe Rente schon lange nicht mehr.
Nach dem Frühstück wird die kleine Wohnung im alten Mietshaus blitzblank geputzt, schließlich ist heute Heiliger Abend.

Um neun Uhr stehe ich ruckartig auf. Heute ist der 24. und ich muß noch die letzten Geschenke und einen Weihnachtsbaum kaufen, ganz zu schweigen von dem, was noch alles vorzubereiten ist. In der Küche statt Frühstück eine Zigarette und einen Kaffee, mißmutig schaue ich noch kurz in die Zeitung.

Die alte Frau betrachtet gerade das Bild ihres Sohnes, das im Wohnzimmer auf dem altmodischen Schrank steht, aus der Küche duftet es nach Tee und Weihnachtsplätzchen. Ich schreie durch das Haus, daß mein Sohn sich gefälligst beeilen soll, schließlich müssen wir jetzt in die Stadt fahren, wenn wir heute noch alles schaffen wollen. Die alte Frau wischt eine Träne aus den Auge, als sie das Bild auf den Schrank zurückstellt.

In der Stadt ist natürlich kein Parkplatz zu bekommen. Müssen die Leute alle unbedingt noch heute einkaufen gehen ? Wenigstens kann man im Stau mit dem Autotelefon noch einige berufliche Projekte besprechen, die sofort nach Weihnachten aktuell werden. Das Telefon der alten Frau hat schon so lange nicht mehr geklingelt.

Nachdem ich mein Auto im Halteverbot abgestellt habe rennen wir zum Kaufhaus. Schließlich brauche ich noch das neue Handy TX2000GSM, Nintendo-Spiele und  CDs. Alles Geschenke, den Rest hole ich beim Juwelier. Ich entscheide mich für die neue Rammstein-CD als Geschenk für meine Schwester. Die alte Frau schaltet ihr altes Radio ein, das ihr Mann noch damals gekauft hatte und lauscht gerührt einem Weihnachtskonzert. Wir rennen weiter zum Juwelier. Hhmmm, so viel wollte ich eigentlich gar nicht ausgeben, aber dann habe ich wenigstens ein Geschenk für meine Freundin und außerdem war es finanziell ein gutes Jahr. Die alte Frau bekommt 900 DM Rente im Monat. Jetzt noch schnell zum Feinkostladen, heute ist Weihnachten, da soll es unter anderem Kaviar und Austern geben. Während ich meine Sachen einpacke, schält die alte Frau ihre Kartoffeln. Ein Stück Fleisch soll es heute abend dazu geben und das ist schon mehr, als das karge Essen der „üblichen“ Tage.

Ich rase zum Weihnachtsbaumverkauf. Viel Auswahl gibt es nicht mehr und dann soviel Geld. Die spinnen doch wohl. Zähneknirschend bezahle ich. Zu Hause noch den Baum schmücken. Verdammt, wo ist die Lichterkette ? Nein, mein Sohn, du kannst jetzt nicht helfen. Paß auf, wo du hintrittst. Mein Gott, nerven Kinder immer vor Weihnachten. Die alte Frau zündet die Kerze auf ihrem Weihnachtsgesteck an.

Endlich abend, Weihnachtsmusik von CD, übrig bleiben Unmengen von zerrissenem Geschenkpapier und sonstiger Verpackungsmüll. Unsere wohlhabende, kleine Familie ist zwar etwas erschöpft, noch leicht gereizt, aber ansonsten glücklich, schließlich ist Weihnachten. Die alte Frau schließt die Augen. Ihr Sohn kommt zur Tür rein. Frohe Weihnachten Mama, es war ein schwieriges Jahr, deshalb habe ich Dein Weihnachtsgeschenk diesmal selbst gebaut. Hauptsache, wir haben uns. Setz dich, mein Junge. Die Augen der alten Frau sind noch geschlossen, Kerzenlicht erhellt den Raum. Ihr Sohn ist vor über zwölf Jahren gestorben.
Am nächsten Morgen ist die Kerze abgebrannt. Regungslos sitzt die alte Frau noch immer im Sessel. Ihre Augen sind geschlossen, ihr Körper wird langsam kalt, die alten Hände haben aufgehört zu zittern. Aber sie lächelt.

Ich wache auf, immer noch etwas gereizt und hektisch. Langsam stellt sich aber Ruhe ein. Im nächsten Jahr spare ich mir die Hektik und wir feiern Weihnachten als Fest der Liebe und ohne den ganzen Kommerzrummel. Das nehme ich mir jedes Jahr wieder vor.
Die alte Frau lächelt noch immer.

Irgendwann wird man die tote alte Frau finden und sagen: „Die arme alte Frau, so einsam und ausgerechnet am Heiligen Abend gestorben“.

Was verstehen wir denn schon davon ?

 
Copyright Oliver R.